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gesichtet #72: Ein Zuhause auf dem Kofferkuli

gesichtet #72: Ein Zuhause auf dem Kofferkuli

Das Klacken der High Heels und das Heulen der BMW-Motoren prägen an so manchem Samstagabend die Geräuschkulisse. Der traditionelle Treffpunkt bei den Telefonkabinen, die Schlange beim Coop Pronto oder das Gelage auf vor der Barfüsserkirche und dem Tinguely-Brunnen stimmen auf die Ausgangsmeile ein. Beim Papa Joe’s, in der «Steine» mit all den Kinos und Cocktail-Bars oder weiter hinten Richtung Heuwaage bei den Discotheken und Gelegenheiten zum nächtlichen Döner-Verzehr: Die Gegend beim Barfüsserplatz in Basel lässt am Wochenende den wahren oder auch nur vermeintlichen Wohlstand hervortreten.Mitten im ganzen Schickimicki-Trubel steht aber einer, dem das Ganze so ziemlich egal ist. Während gleich neben ihm ein Catwalk und ein Autosalon zugleich über die Bühne gehen, schiebt Marcel gesenkten Hauptes sein gesamtes Hab und Gut vor sich her. Während gleich neben ihm Junglenker ihren Mercedes vorführen, begnügt er sich mit einem Kofferkuli vom Bahnhof. Seelenruhig durchwühlt der Bärtige den Aschenbecher, der sich wie eine Schublade aus den öffentlichen Mülleimern herausziehen lässt, nach weiterhin brauchbaren Zigarettenstummeln. Wie auch der Mann, welcher den Leuten stets Orangen und Äpfel offeriert, und die Zweiton-Akkordeonistin ist auch er nicht mehr vom Barfi wegzudenken.Ob gewollt oder ungewollt: Marcels Anwesenheit bildet den grossen Kontrast zur hochstaplerischen Kulisse. Matratze, Kleider, Kessel stapeln sich auf seinem Kofferkuli und ein Leitkegel baumelt vom Wagen, während das Essbesteck in der Jackentasche des urbanen Wanderers steckt. Nicht selten lässt er den Gepäckwagen beim Bahnhof oder eben beim Barfi stehen und dreht mit dem Trottinett eine Runde. «Bin gleich zurück» heisst es auf der Plane, die seinen Besitz vor dem Regenwetter schützt. Zwei «Fans» von ihm haben dort ebenfalls ihre Unterschrift hinterlassen.Wie Marcel erzählt, lebt er schon seit rund zehn Jahren auf der Strasse. Bisweilen kauert er in der «Steine» und haucht einer Mundharmonika, die er stets mit sich führt, Töne ein. Wie er sagt, lebt er von der Strassenmusik. Betteln könne und wolle er schliesslich nicht. Er übernachtet, wo es gerade möglich ist, oft im Freien. Der wortkarge, aber freundliche Mann wird nachdenklich: «Das ist die solidarische Schweiz», meint er seufzend über seine Situation. Er schlage sich durch, so gut er könne, murmelt er traurig in seinen Bart. Anschliessend zieht er gemächlich mit seinem Wohnwagen der etwas anderen Art weiter zur Tramhaltestelle.Marcel ist nicht der Einzige, der mit einem Kofferkuli unterwegs ist. Beim Bahnhof gibt es einen älteren Mann, der den Gepäckwagen jeweils als Rollator benutzt. Mittlerweile gibt es auch noch einen Dritten im Bunde, der unter anderem im St. Johann einen Kofferkuli samt Velo vor sich herschiebt. Und dann gibt es auch noch den ehemaligen Rapper, der sein Fahrrad stets mit Taschen beladen hat mit einem Rollkoffer, den er als Veloanhänger verwendet, durch Basel rattert. Oft werden sie einfach als Akteure und als seltsame Gestalten im Stadtbild wahrgenommen, aber kaum jemand kennt ihre eigentliche Geschichte. Auch der Schreibende weiss wenig über ihre Hintergründe. Auch wenn ihre Lebensform weder belächelt und bedauert noch romantisiert werden sollte: Vielleicht sind Leute wie Marcel, die ihr Zuhause auf Rädern mit sich führen, die tragischen, aber wahren Stadtnomaden.